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Stillstand durch Vetorechte
In den letzten Jahren hat sich in vielen Ländern der Europäischen Union unter der Bevölkerung der Eindruck breit gemacht, dass der Abstand der politischen Eliten in Brüssel zur ihr zu groß zu worden ist. Deshalb soll die Bevölkerung stärker in den politischen Prozess eingebunden werden, z.B. durch Stärkung des direkt gewählten Europäischen Parlaments (wie im neuen Grundlagenvertrag vorgesehen).
Ein anderer Vorschlag ist über wichtigen Fragen Volksabstimmungen durchzuführen. Viele halten aber auch das Veto-Recht jedes Mitgliedsstaates für unverzichtbar, d.h. dass in wichtigen Bereichen die Zustimmung aller Länder erforderlich bleiben soll. Obwohl es Argumente für jeden Vorschlag gibt, würde die gleichzeitige Umsetzung zum Stillstand der europäischen Politik führen.
Das Problem kann man durch ein einfaches Gedankenexperiment illustrieren: Man stellt sich eine Entscheidung vor, die sehr wahrscheinlich von der Bevölkerung in einem einzelnem Mitgliedsland angenommen werden würde. Ein Beispiel dafür ist ein Vorschlag, bei dem man in 9 von 10 Fällen (also mit 90%iger Wahrscheinlichkeit) mit einer Zustimmung der Bevölkerung eines bestimmten Mitgliedsland rechnet. Es sind nur wenige Vorschläge vorstellbar, bei denen man von einer so großen Annahmewahrscheinlichkeit durch die Bevölkerung ausgehen kann. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass diese Annahmewahrscheinlichkeit in allen Ländern bei 90% liegt.
Die interessante Frage ist nun, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Vorschlag angenommen wird, wenn dafür in allen Mitgliedsstaaten die Volksabstimmungen positiv ausgehen müssen. Schätzen Sie selbst! Sie werden überrascht sein! Die korrekte Antwort auf die Frage ist nämlich mehr als schockierend: 5,815%. Oder mit anderen Worten: in weniger von 6 aus 100 Fällen würde der Vorschlag auch tatsächlich angenommen werden. Vorschläge mit sehr guten Erfolgsaussichten pro Land werden mit einem System europaweiter Volksabstimmungen bis auf wenige Ausnahmefälle abgelehnt.
Wie kommt es zu diesem Ergebnis? Beginnen wir mit zwei Ländern: Wenn man alle möglichen Fälle zusammenzählt erkennt man, dass es insgesamt 100 gleichwahrscheinliche Fälle gibt, in denen in 9 · 9 = 81 Fällen die Abstimmung in beiden Ländern positiv ausgeht; im Rest negativ. Die Wahrscheinlichkeiten multiplizieren sich also: 9/10 · 9/10 = 81/100. Selbes gilt für mehr als zwei Länder, für die 27 aktuellen Mitgliedsländer also:
Somit liegt die Wahrscheinlichkeit, dass alle Länder zustimmen, bei geringen 5,815%. Auch für Beispiele mit anderen Zahlen bleibt die Kernaussage immer erhalten: Die gesamteuropäische Zustimmungswahrscheinlichkeit ist unglaublich niedrig im Vergleich zum nationalen Niveau.
Was kann man nun aus dieser kleinen Rechenübung für die politische Diskussion lernen? Wenn man europaweite Volksabstimmungen für wichtig hält, muss man sich bewusst sein, dass man dabei nicht gleichzeitig das Veto jedes Landes beibehalten kann (zum Beispiel könnte man wie in der Schweiz ein System der doppelten Mehrheiten einführt, wobei dann die Mehrheit der gesamteuropäischen Bevölkerung und die Mehrheit der einzelnen Staaten zustimmen müsste). Hält man aber das Veto für unabdingbar, wird man um eine Beibehaltung des jetzigen Systems der Zustimmung über die nationalen Regierungen (und in der Folge auch der nationalen Parlamente) nicht hinwegkommen. Welches dieser Argumente aber wichtiger ist, kann man natürlich nicht mathematisch beantworten.
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Quellen- und Lizenzangaben
[teaser], Archiwum Kancelarii Prezydenta RP (wikipedia), Tratado de Lisboa 2007, GNU FDL[1], Gepat (flickr), Parlement européen. Journée de l'Europe, 9 mai, Bruxelles, CC-BY-NC-ND
[2], CrazyPhunk ((wikipedia), European Union as a single entity, CC-BY-SA